Lehrerbildung

Vor einer Herzoperation wird kaum jemand dem Chirurgen erklären, wie er seine Schnitte zu setzen hat. Eine Schule hat aber jeder einmal durchlaufen, hier ist jeder Experte. Die pädagogischen Kernkompetenzen, und damit auch die Lehrpersonen selbst, werden permanent in Frage gestellt. Eben diese Lehrpersonen sollen aber Tag für Tag mit neuem Schwung und neuen Ideen ihre Schüler begeistern. Ein Paradoxon, das dazu führt, dass es wohl kaum ein Land gibt, in dem Zynismus und Frustration in den Schulkollegien so ausgeprägt sind, in dem das Erreichen der Pensionierungsgrenze im regulären Dienst eher Ausnahme als Normalfall ist. Die permanente Krise des Bildungssystems hat zu einer ernst zu nehmenden Krise des Selbstbewusstseins der Lehrer geführt.

Gesellschaftliche Akzeptanz
„Lehrer sind faul, haben nachmittags frei und lange Ferien.“ Soviel zum Klischee. Wer so argumentiert, müsste konsequenterweise von einer faulen, Eier legenden Wollmilchsau sprechen. Denn als Eltern erwartet man natürlich schon, dass daseigene Kind die Inhalte auf neuestem Forschungsniveau, zugleich aber gut verdaulich präsentiert bekommt, dass hohe Anforderungen gestellt werden, die Begabungen des eigenen Kindes aber selbstverständlich mit hervorragenden Noten zu würdigen sind. Schlechte Verhaltensweisen sind hart zu disziplinieren, fällt ein falsches Wort gegenüber dem eigenen Kind, wird mit dem Anwalt gedroht. Die Schizophrenie der an Lehrer gerichteten Erwartungen ist öffentlich zu thematisieren. Wir brauchen breite gesellschaftliche Akzeptanz für die Schwierigkeit der pädagogischen Aufgaben. Hierfür gilt es massiv zu werben, denn in der so von zwischenmenschlichen Befindlichkeiten abhängigen Funktion des Lehrers spielt das Selbstbewusstsein eine ganz entscheidende Rolle.
Außerdem: Bei der Schlüsselbedeutung, die den Lehr- und Erziehungspersonen für die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft zukommt, müssen pädagogische Berufe für die Besten der Jahrgänge attraktiv sein. Davon sind wir im Moment noch weit entfernt.

Vom Richter zum Trainer
Der Rohrstock als pädagogisches Instrument hat in Deutschland schon länger ausgedient, von ihrem Status als Autoritäten haben sich die Lehrer schleichend verabschiedet. In der pädagogischen Kernkompetenz nicht ernst genommen, in ihren Leistungen nicht gewürdigt, bei eigenen Entscheidungen mit Rechtsanwaltsdrohungen überzogen – es ist schwierig, als Autorität aufzutreten. Dahinter steht auch der Umstand, dass Erwachsene insgesamt seltener als Autoritäten anerkannt werden, dass Eltern zu Hause nicht mehr als Autoritäten auftreten, dies aber von den Lehrern verlangen.
Diese sind in der Regel von der Schule an die Universität und von dort wieder in die Schule gegangen. Woher soll da der Überblick über die immer komplexer gewordene Arbeitswelt kommen? Wie aber mit Überzeugung die Richtung vorgeben, wenn man das Ziel gar nicht kennt, kaum weiß, was die Schüler am Ende der Schule wirklich können sollten? Was tun, wenn man die Realitäten, auf die man vorbereitet, nur vom Hörensagen kennt? Unternehmenspraktika für Lehrer sind hier sicher ein geeignetes Instrument. Es muss jedoch insgesamt leichter und vor allem selbstverständlicher werden, die Schule für einige Jahre verlassen und um vielfältige Erfahrungen bereichert in die Schule zurückkehren zu können. Davon profitieren die Lehrer und die Schüler.
Die Autorität der Lehrer ist wiederherzustellen, wenn auch in stark gewandelter Form. Sie sollte sich zum einen ergeben aus einer deutlich erhöhten gesellschaftlichen Wertschätzung, einer gesteigerten Weiterbildungsintensität und einer stark verbes-serten Weiterbildungsqualität, zum anderen aus einer Neudefinition der Lehrerrolle. Die Autorität des Lehrers sollte sich nicht mehr aus seiner Sanktionsgewalt oder seinem Vorsprung an Wissen ergeben. Im differenzierenden Unterricht, der, statt Homogenität anzustreben, auf die Entwicklung der individuellen Potenziale sowohl der schwachen als auch der starken Schüler setzt, ermöglicht die Lehrperson den Zugang zu Wissen. Der Lehrer selbst hilft bei der Generierung und Strukturierung von Inhalten, liefert aber nicht mehr alle Inputs selbst. Er wird – wie insbesondere von guten Lehrern bereits vollzogen – vom Richter, der seine Schüler wie Zirkustiere abfragt und sie danach bewertet, wie viel von dem Eingetrichterten sie richtig reproduziert (und eine Woche später wieder vergessen) haben, zum Berater, zum Kompetenz- und Persönlichkeitsentwickler. Im Sinne eines Trainers hilft er den Schülern, ihre Potenziale zu erkennen und zu entwickeln. Aus den daraus resultierenden Erfolgserlebnissen und Entwicklungssprüngen, aus dem erfolgreichen Einsatz seiner pädagogischen und didaktischen Kompe-tenz, bezieht er seine Autorität.
Ein solches System funktioniert nur aus einer Haltung der ermunternden Herausforderung, denn Erfolg ohne Mühe ist wertlos. Anstrengung, Fleiß, Ausdauer und Überwindung sind die Voraussetzungen für nachhaltiges Lernen. In ihrem eigenen Selbstbewusstsein gestärkte und in ihrer Rolle gefestigte Lehrer fassen wieder Mut zur Zumutung, werden konsequent Grenzen ziehen und unerwünschten Verhaltensweisen mit klaren Reaktionen begegnen.
Auch bei hoher fachlicher und erzieherischer Kompetenz bleiben Lehr-/Lern-Prozesse Beziehungsarbeit und als solche in hohem Maße frustrationsbesetzt. Die Burnout-Gefährdung ist erheblich, Supervision sollte, wie etwa in Jugendämtern oder bei der Polizei bereits in vielen Regionen üblich, auch für Leh-rer zum Erhalt der physischen und psychischen Gesundheit, zur Berufszufriedenheit und Handlungsfähigkeit systematisch als Angebot eingeführt werden.

Einstufige Lehrerausbildung
Die geänderten Rollenanforderungen spiegeln sich im Aus- und Weiterbildungs-system für Lehrer nicht wider. Lehrer werden in Deutschland primär als Fachwissenschaftler ausgebildet. Sie brauchen lange und sind trotzdem kaum auf den Schulalltag vorbereitet. Unser System der Lehrerausbildung ist eine nicht nachvollziehbare Ressourcenverschwendung.
Nehmen wir das Beispiel eines Lehrers mit der sehr verbreiteten Kombination von Mathematik und Physik. In beiden Fächern ist weitgehend das Pensum der Diplom-Studenten zu absolvieren, zusätzlich vielleicht noch etwas Didaktik und Pädagogik, je nach Bundesland. Zumindest im Grundstudium haben wir es also fachlich gesehen mit einem Doppeldiplom zu tun. Wie viele Studenten sind so begabt, dass sie parallel zwei Diplomstudiengänge studieren? Von Lehramts-studenten wird genau das verlangt. Und zur Belohnung werden sie dann als Studenten zweiter Klasse behandelt, weil sie ja nicht so tief im Stoff stehen wie ihre Diplom-Kollegen. Dabei haben sie neben organisatorischen Problemen durch sich überlappende Veranstaltungen der verschiedenen Fachrichtungen noch eine erheblichen Mehrbelastung durch höhere Stundenzahlen und breitere Leistungs-anforderungen zu bewältigen.
Das Ergebnis eines solchen Studiums sind hervorragend ausgebildete Fachwissenschaftler, die bestenfalls am Rande etwas darüber mitgenommen haben, wie sie das nun in der Schule vermitteln sollen. Die jahrelange Arbeit auf höchstem fachlichen Niveau führt letztlich zu dem Problem, dass die Erklärung einfacher, schulrelevanter Fragestellungen von den wenigsten in verständlicher Form geleistet werden kann. Im Lehramt für die Sekundarstufe I verschärft sich die Diskrepanz von Studiumsinhalten und schulischen Lehrinhalten noch einmal erheblich.
Natürlich soll ein Lehrer in seinen Fächern strukturierter und pointierter denken als seine Schüler. Wenn er aber nicht weiß, wie er das Wissen vermitteln, wie er mit den erzieherischen Schwierigkeiten in einer Klasse umgehen soll, bringt das gesammelte Fachwissen nichts. Wer heute ein guter Pädagoge wird, wird dies allzu oft trotz und nicht wegen der Lehrerausbildung.
Lehrer werden bisher nach ihrer Abschlussnote eingestellt. Diese richtet sich in der Regel nach den Leistungen, die bei der Reproduktion und bei der Anwendung von Wissen erzielt wurden. Die besten 15% eines Jahrgangs werden auch in der Praxis hervorstechen, der Rest hat ganz erhebliche Probleme.
Auch in der Erziehungswissenschaft werden Zensuren zumeist danach vergeben, ob jemand einen Text verstehen, reproduzieren und anwenden kann. Über die pädagogische Kompetenz wird damit nichts ausgesagt. Die wird vielfach erst in der zweiten Ausbildungsphase relevant, dem Referendariat. Da ist das Studium schon abgeschlossen, eine Umorientierung fällt schwer. Einige Bundesländer haben daher begonnen, einen Teil des Referendariats in das Studium vorzuziehen, um eine frühzeitige Erprobung der pädagogischen und didaktischen Kompetenzen zu ermöglichen. Dieser Schritt ist richtig, kann aus unserer Sicht aber nur ein Anfang sein. Ziel muss eine integrierte, einstufige Lehrerausbildung – und somit die Abschaffung des Referendariats – sein. Der deutsche Sonderweg des Referendariats war insbesondere zur verwaltungsrechtlichen Legitimation einer höheren Besoldungsstufe und nicht aus Gründen inhaltlicher Relevanz eingeführt worden. Es ist an der Zeit, diesen Irrweg zu verlassen.

Der pädagogische und der didaktische Teil des Studiums sollten sehr praxisorientiert geführt werden, um den in verschiedenen Studien diagnostizierten eklatanten Mangel an konkretem Arbeitswissen zu beseitigen. Statt ein isoliertes Referendariat anzuschließen, ist beispielsweise während des gesamten Studiums ein Tag pro Woche in einer Schule zu verbringen, sei es für Hospitationen, didak-tische Analysen oder eigene Unterrichtseinheiten. Alternativ wäre auch nach jedem Semester ein Block in der vorlesungsfreien Zeit denkbar. Wichtig ist, dass frühzeitig praktische Lehrerfahrungen gesammelt und wirksame Rückmeldungen gegeben werden. Entscheidend ist auch, dass die praktischen Erfahrungen als Orientierungspunkt bei der Erarbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen verwendet werden. Das vermittelte Wissen ist durch die konkreten Bezüge für die Studenten relevant und kann zeitnah auch praktisch umgesetzt werden. Die in diesem Modell alltäglicher werdende Zusammenarbeit zwischen Lehramts-studenten der verschiedensten Fachrichtungen schafft eine professionelle Gemeinschaft, in der die spätere Kooperation zwischen verschiedenen Fächern in der Schule durch die Gewohnheit des konkreten persönlichen Kontakts vereinfacht wird. Kurse in Stimmbildung, Rhetorik, Kommunikation, Konflikt-bewältigung und spezifischen didaktischen Methoden runden, wie in einigen Studienreformentwürfen bereits vorgesehen, das pädagogisch-didaktische Angebot ab.

Mit dem vorgeschlagenen Modell verbessert sich die Qualität der Vorbereitung auf die Schule erheblich, ohne den Anspruch einer fundierten fachwissen-schaftlichen Ausbildung aufzugeben. Zudem kann die Ausbildungszeit erheblich reduziert werden. Bisher dauert der Weg durch die deutschen Ausbildungs-instanzen der zweistufigen Lehramtsausbildung durchschnittlich fast zehn Jahre. Ein unhaltbarer Zustand.
Zu einer auf maximal fünf Jahre verkürzten Erstausbildung gehört ein verbindliches Weiterbildungssystem, das fachliche und pädagogische Innovationen zeitnah zu den Lehrern und somit in die Schulen bringt. Wer ein Leben lang lehrt, muss – mehr als jeder andere – lebenslang lernen.

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